Samstag, 24. Dezember 2011


Terror, der aus der Karte tönt


Von Jens Höhner

Plötzlich ist es passiert. Ein dicker blauer Strich zieht sich von einer Ecke zur anderen. Ein irreparabler Schaden auf der eben noch blütenweißen Weihnachtskarte. Ein Fall für die Tonne. Eben, vor gut einer halben Stunde und kurz nach Ladenschluss, ist die Welt noch hübsch in Ordnung gewesen. Ruhig war’s und nahezu besinnlich. Zu Hause brennen Kerzen, die Füllfeder ist betankt, ein gutes Glas Rotwein soll das Schreiben der Weihnachtspost ein bisschen beschleunigen. In der Tat, die Feder fliegt über das Papier, aber das Herz rast wenig besinnlich, als jener Tintenstrich tiefblau übers Kartenweiß eilt. Auf der Stirn perlt der Schweiß, während der Kerl am anderen Ende des Füllers aufgesprungen ist vom Schreibtisch und ziemlich unweihnachtliche Flüche ausstößt, etwa „Du bescheuertes Rentier, Du!!!“ oder – beim Anblick des Weihnachtsmannes: „Du fetter Sausack im Puschelmantel!“

Dabei ist das Angebot echt gut gewesen: Jede Weihnachtskarte für nur einen Euro! Nur einen Euro! Denn ist es fünf vor zwölf, wenn die Adventspost pünktlich zum Fest die Freunde erreichen soll, dann ist jetzt Schreiben angesagt, eben bei Kerzenschimmer, Rotwein und bis vor einigen Augenblicken recht entspannter Atmosphäre – und einem gewissen Stolz, doch noch alles rechtzeitig zu schaffen. Dem türkischen Kiosk an der Ecke sei Dank. Eine Karte, ein Euro, einfach unschlagbar.

Und wer ahnt schon, dass die gut verpackte Ware plötzlich Geräusche macht? Dass aus Rentierfratzen irrelaut, aber monoton „Jingle Bells“ plärrt? Oder dass ein rotes Weihnachtsmanngeschicht ohrenbetäubend „O Tannenbaum“ schmettert? Jede Karte ist ein Treffer, jener Dudelmechanismus beim Aufklappen funktioniert mit verlässlicher und vor allem martialischer Perfektion. Für 20 Euro habe ich Spitzenware des weihnachtlichen Frohsinns erstanden, der mich vor dem vermeintlich ersten Federstrich kolossal erschreckt.

Während ich später nach dem ärgerlichen Tintenmalheur endlich auch die letzte Terror-Grußkarte in ihrem adressierten Umschlag verstaue, hoffe ich auf die Deutsche Post. Die hat schon ganze andere Sachen kaputtgekriegt.

Mittwoch, 12. Oktober 2011

Süße Träume auf Etage 4

Von Jens Höhner

Aus einem Lautsprecher tröpfelt moderne Jazzmusik, in ausgedehnten Klangwelten nöhlt ein Saxofon. Ich gleite – nein, ich schwebe – nahezu durch mir unbekannte, höchst moderne Lounge-Landschaften wie aus dem Katalog, eingelullt von dieser sphärischen Musik. Benebelt bin ich, vielleicht sogar high. Hier riecht es nach schwerem Holz, dort nach aufgerautem Leder. Üppigste Kissenberge laden ein zur Rast, Duftstäbe zur Linken und zur Rechten verströmen ihr Aroma. Ein Buddha grinst starr in den Raum hinein. Meine Arme werden schwer, die Beine sind es längst.

Aus dem Vorwärtsgleiten wird auf Etage 4 schließlich ein Taumeln. Ich kann nicht mehr. In den Ohren rauscht und braust es, immer wieder drängt sich jenes Saxofon in den Gehörgang. Meine Augen flimmern, die Nase juckt ob einer neuen Duftattacke. Alles dreht sich, mir sinkt der Kopf auf die Brust. Nur noch ein paar Schritte, denke ich, nur noch ein bisschen vorwärts. Dann kippe ich endlich um und versinke in flauschigen Decken, gerade eben spüre ich noch das bereitwillige Entgegenkommen einer hervorragenden Matratze. Dann ist es dunkle Nacht, ich werfe mich in Morpheus‘ Arme und gebe mich den Träumen hin. Herrlich. Ist es ein wirklicher Rausch?

Plötzlich ein energisches Räuspern. Dann ein Hüsteln, gefolgt von einem noch energischeren Räuspern. Eine Stimme dringt in meine Traumwelt. „Entschuldigung“, sagt sie. „Entschuldigung, Sie können doch nicht …“. Jemand greift an meine Schulter, fasst zu, schüttelt mich. Ich werde wach, plötzlich. Ich reibe mir die Augen. Vor mir steht ein Mann in einem schlechtsitzenden Polyesteranzug. Ein Verkäufer. Um mich herum stehen Betten, Betten und noch mal Betten. Und ich habe mir eines davon ausgesucht, um mich hinzulegen – auf Etage 4 von Möbel Meyer. „Mehr als drei Möbelhäuser sollte man einfach nicht an einem Tag aufsuchen, das ist zu viel“, urteile ich, während ich mich, eine Entschuldigung brummend, aus dem Ausstellungsstück schäle. „Sie sollten Ihre Kunden nicht so einlullen“, erkläre ich dem verdutzten Verkäufer, zeige auf die Duftstäbchen, deute auf die Jazz erfüllten Lautsprecher und trolle mich, verfolgt von einem nöhlenden Saxofon.

Dienstag, 23. August 2011

"Tomorrow's World" - oder: Kino für Kopf und Ohren

Von Jens Höhner

Sicherlich wäre es für Vince Clarke und Andy Bell ein Leichtes gewesen, auf der anhaltenden Achtziger-Jahre-Revival-Welle mitzureiten und sich schamlos selbst zu kopieren. Stattdessen aber schenkten die beiden Pioniere des Synthie-Pop ihr Vertrauen dem erst 26 Jahre alten Musikproduzenten Frankmusik aus London, der sich des neuen Erasure-Albums „Tomorrow’s World“, dem 14. Studiowerk der Band, annehmen durfte. Herausgekommen ist tatsächlich etwas von morgen, ein modernes und gradliniges Diskopop-Album, bei dem die Fans zwar auf die Soundspielereien von Vince Clarke weitestgehend verzichten müssen. Dafür aber brechen wahre Soundwände im Kinoformat über den Hörer herein – „Erasure goes Lady Gaga“ könnte das Motto gewesen für die Arbeit an „Tomorrow’s World“, das sich – wenn man den nach Vergleichen sucht – vielleicht als eine Mischung aus den früheren Erasure-Alben „Cowboy“, „Erasure“ und „Nightbird“ beschreiben lässt.

Bei aller Euphorie über diesen „Langspieler“ (man beachte die Anführungszeichen) muss aber festgehalten werden, dass es mehr als enttäuschend ist, dass die Herren Clarke und Bell gerade mal neun Songs anbieten, die es zusammen auf eine Spielzeit von nicht mal 32 Minuten bringen. Das ist mager. Wer noch mehr neues Erasure-Material hören will, muss auf die limitierte Version des Albums zurückgreifen, auf der es mit „Give me life“ dann wenigstens noch einen zehnten neuen Song zu hören gibt.

„Tomorrow’s World“ im Einzelnen:

01 „Be with you“:
Zuckersüßer, etwas klebriger Diskopop mit Ohrwurm-Garantie. Das Besondere an diesem Stück ist – wie bei anderen Songs des neuen Albums auch – der Gesang, der live und nahezu unbearbeitet klingt – geradeso, als säße Andy Bell in der Lautsprecherbox vor einem. Ein guter Opener, der Lust auf mehr macht, zum Beispiel auf „Fill us with fire“.


02 „Fill us with fire“: Der zweifelsohne stärkste Song des Albums, der sich wunderbar als Auftaktsingle geeignet hätte. Eine fantastische Melodieführung, ein perfektes Arrangement setzen erneut den Gesang Andy Bells wunderbar in Szene. Auch gibt es bei diesem Up-Tempo-Stück die ansonsten sehr spärlich eingesetzten en analogen Synthie-Finessen von Vince Clarke. Geht sofort ins Ohr – und reift dort lange nach.


03 „What will I say when you’re gone“: Eine der beiden Balladen auf dem neuen Langspieler und
vielleicht der langweiligste Song auf „Tomorrow’s World“. Die Melodie kommt sehr vorhersehbar daher – allein der Gesang von Andy Bell reißt diese Nummer aus der Belanglosigkeit.


04 „You’ve got to save me right now“: Dieser Song lässt hinhören, so ungewöhnlich ist er.Feinster Elektro-Blues von Erasure! Bei den vergangenen „Total Pop!“-Konzerten hat das Stück unter dem Kurztitel „Save me“ bei den Fans gemischte und überwiegend ablehnende Kritik hervorgerufen. Musikalisch ist er ob seines komplizierten Arrangements und der gesanglichen Herausforderung ein echter Knaller und damit ein Album-Highlight. Man muss ihn mehrfach hören, um den Charme der sauber produzierten Studioversion herauszuhören.


05 „A whole lotta love run riot“: Eine schnelle, stampfende Diskonummer mit ziemlich vielen Vocoder-Effekten, die sich ziemlich überraschend in den Soundkaskaden verlieren – eine clevere Produktion und eines jener Stücke, die mit überwältigenden Soundwänden aufwarten. Geht sofort ins Ohr, auch dank seiner eher schlichten Melodie. Und die Fans kommen in den Genuss, Andy Bell auf Französisch singen zu hören.


06 „When I start to (Break it all down)“: Ein wundervoller Song mit einer charmanten Melodie, die sich schnell in den Gehörgang kuschelt. Als erste Single nach einer Erasure-Pause von vier Jahren scheint er aber als Vorbote eher ungeeignet. Von der Musik her klingt das Stück eher reduziert, es lebt vom famosen Gesang Andy Bells, der erneut stark nach Live-Aufnahme klingt. Im Hintergrund dürfen endlich Vinces Clarkes Synthesizer hemmungslos hervorsprudeln – überraschendes, fesselndes Ende. Warum Frankmusik davon gleich eine Coverversion aufgenommen hat, ist allerdings ein Rätsel – von diesem eher missratenen Machwerk sollte man ohnehin Finger und Ohren lassen.


07 „I lose myself“: Hammerstarke Elektro-Nummer, die sich als Single nur so aufdrängt. Erinnert an
Donna Summers „Hot Stuff“. Knallhartes, trockenes Arrangement, eine absolute Partynummer. Das Modern-Talking-Klavier in der Mitte aber hätten besser Soundtüfteleien aus Vince Clarkes Klangschmiede ersetzt … Man darf sich – wie übrigens bei der Mehrzahl der neuen Kompositionen – auf das Live-Erleben freuen.


08 „Then I go twisted“: Und noch einmal geht’s auf den Dancefloor, lasziver Diskopop mit explosivem Sound und wummernden Beats, wunderbar kühl produziert und von Andy Bell betörend vorgetragen. Wieder aber kommt der Vocoder zum Einsatz, um den Gesang zu manipulieren – Geschmackssache. Ein Ohrwurm aber allemal.


09 „Just when I thought it was ending“: Eine umwerfende Ballade – vielleicht die beste, die Erasure jemals produziert haben, so bezaubernd wie einst „No doubt“. Üppige Klangteppiche, die den Song nach Soundtrack klingen lassen – großes Kino im wahrsten Sinne des Wortes. Schmeichelt sich ins Ohr und bleibt ewig in den Gedanken. Zusammen mit „Fill us with fire“ ein Höhepunkt auf „Tomorrow’s World“.



Fazit: Ein insgesamt starkes Album, das die Fans aber spalten wird. Die Vincianer werden eher enttäuscht sein, während die Bellianer frohlocken dürften wegen der brillanten Gesangsleistung, die Lust auf die kommenden Live-Auftritte macht. Insgesamt wäre zu wünschen gewesen, dass es mehr neues Material gibt, das zeigt: Erasure sind noch lange nicht am Ende der Kreativität angelangt. Im Vergleich mit einem Album wie „Nightbird“ aber fällt „Tomorrow’s World“ dann doch deutlich ab. Oder mit einer Schulnote ausgedrückt: 2-.



Freitag, 8. Juli 2011

Tomorrow's World, Today's Night-Party

Erasure-Night im SASCH’s!

Sie sind ein Stück Musikgeschichte, Klassiker des Synthetikpops wie „Oh l’Amour“, „Sometimes“, „A little Respect“, „Always“, „Breathe“ oder zuletzt „Sunday Girl“ stammen aus der Songschmiede von Vince Clarke und Andy Bell, kurz Erasure. Am 3. Oktober erscheint mit „Tomorrow’s World“ das 13. Studioalbum des britischen Duos aus Diskodiva und introvertiertem Soundingenieur, dem die Single „When I start to (Break it all down)“ vorausgeht. Am Samstag, 12. November 2011, machen Erasure mit ihrer „Tomorrow’s World“-Tour Station im Kölner „E-Werk“. Aber wenn dort die Lichter ausgehen, ist der Spaß noch längst nicht vorbei: Dann steigt in „SASCH’s Bar“, Taunusstraße 2/Wetzlarer Straße, die „Tomorrow’s World, Today’s Night“-Party mit Erasure satt.

Geboten werden für einen Flatrate-Preis 19 Euro Fingerfood und Snacks sowie Sekt, Hausbier und Softdrinks, dazu Musik von Erasure und Co. in Ton und Bild. Und dazu wird es sicherlich die eine oder andere Überraschung geben! Die Teilnehmerzahl allerdings ist begrenzt, eine rechtzeitige und verbindliche Anmeldung daher geboten.

Anmeldungen für die „Tomorrow’s World, Today’s Night“-Party sind möglich über das Facebook-Profil von „SASCH’s Bar“ oder per E-Mail an saschs-bar@web.de unter Angabe von Namen und E-Mail-Adresse. Die Reservierung ist erst nach erhalt einer Bestätigungsmail von „SASCH’s erfolgt. Sollte keine Rückmail folgen, so ist die begrenzte Teilnehmerzahl bereits erreicht und es ist (vorerst) keine Teilnahme mehr möglich! Die Party steigt im Anschluss an das Erasure-Konzert im „E-Werk“, Ende offen.

Adresse: „SASCH’s Bar“, Wetzlarer Straße 2 (Eingang Taunusstraße), 51105 Köln, Telefon: 0221/8875471, Internet: http://www.saschs-bar.de/

„SASCH’s Bar“ ist bequem vom Flughafen (S-Bahn-Linie 13) und vom Kölner Hauptbahnhof (S-Bahn-Linien 12 und 13, Regionalbahn 25) zu erreichen. Von der Haltestelle „Trimbornstraße“ sind es drei Minuten zu Fuß. (höh)

Mittwoch, 23. März 2011

Wartezimmer

(oder: Gebt mir mehr Penicillin)

Von Jens Höhner, 22. März 2011

Der eine hustet, der andere schnieft,
der eine keucht, eine Achsel mieft.
Und ein Auge einsam trieft.
Der eine röchelt, der andre niest,
ist das eklig, Herpes sprießt.

Wir warten zusammen, sind doch allein,
jeder will als Nächster rein.
Bakterien fliegen durch die Luft,
der Typ gegenüber sieht aus wie'n Schuft.

Marc-Kevin, das Höllenkind,
füttert die Fische, einer ist schon blind.
Dann kippt er das Spielzeug um,
ich träume von spritzen voll Morphium
(nicht für mich, fürs Höllen-Kind).

Die Sprechanlage quiekt,
privat-versichert siegt.
Ich bleibe sitzen
und hab' Angst vor vielen Spritzen.

Endlich kennt das Schicksal Gnade,
mein Blick ist schon völlig fade.
Ich darf rein zum Doc,
"Sie sind krank", ruft er ad-hoc.
Und das stimmt, wie schade.

(Fragt mich nicht nach Metrum, Reim oder Rhythmus!)

Freitag, 18. März 2011

Ich brauche Ballettschuhe

Von Jens Höhner

Ich brauche Ballettschuhe. Können Sie mir bitte welche schicken? Vermutlich schauen Sie gerade genauso verwirrt aus der Wäsche wie jener Kollege, dem allmorgendlich zwischen Schreibtisch und Schreibtisch seltsame Dialoge zu Ohren kommen. Merkwürdige Fragen wie „Hey, was brauchst Du?“ oder „Kannst Du mir noch etwas Marmor schicken?“ oder auch „Wenn Du gleich mal Zeit hast, erntest Du meine Möhren?“. Und wenn schließlich ein Satz fällt wie „Ich hab’ gerade einen fahren lassen“, dann muss niemand das Fenster aufreißen. Es ist nur wieder ein Güterzug mit etlichen Waren an Bord unterwegs.

Vermutlich verstehen Sie nur Bahnhof. Ist mir vor kurzem noch genauso gegangen. Aber dann habe ich mich von meiner Freundin dazu überreden lassen, eine Stadt zu bauen, Felder zu beackern, Straßen anzulegen, nette Nachbarn zu finden. „Cityville“ heißt dieses virtuelle Städtebauprojekt, das eines dieser sozialen Netzwerke im Internet anbietet. Ein Online-Spiel ist es, bei dem man zunächst Landhäuser baut, dann erste Feldfrüchte züchtet, eine Polizeistation und eine Feuerwache errichtet, schließlich Wolkenkratzer in den Himmel wachsen lässt.

Immer aber ist man auf die Hilfe anderer, der Nachbarn, angewiesen, die einem zum Beispiel per Mausklick Marmor schicken oder eben Ballettschuhe senden, wenn man das Theater eröffnen möchte. Auch helfen sie mit Goldbarren aus oder ernten ein gereiftes Feld, wenn einem selbst als Eigentümer der Stadt mal wieder die Energie ausgegangen ist. Jede Spielsession am Computer ist nämlich auf 30 Energie-Einheiten begrenzt.

Und das ist gut so. Denn sonst würde ich wohl ewig spielen, ausgerechnet. Pacman fand ich als Kind doof, einen Gameboy habe ich nie besessen und Super-Mario habe ich nur ein einziges Mal in meinem Leben über virtuelle Hügel hüpfen lassen. Lieber habe ich Fußbälle über eine grüne Wiese gekickt oder habe Verfolgsjagden mit dem Fahrrad gemeistert. Aber das war gestern. Jetzt ruft das Feld, ich muss raus. Sie wissen schon, diesmal der Mais ...