Dienstag, 23. August 2011

"Tomorrow's World" - oder: Kino für Kopf und Ohren

Von Jens Höhner

Sicherlich wäre es für Vince Clarke und Andy Bell ein Leichtes gewesen, auf der anhaltenden Achtziger-Jahre-Revival-Welle mitzureiten und sich schamlos selbst zu kopieren. Stattdessen aber schenkten die beiden Pioniere des Synthie-Pop ihr Vertrauen dem erst 26 Jahre alten Musikproduzenten Frankmusik aus London, der sich des neuen Erasure-Albums „Tomorrow’s World“, dem 14. Studiowerk der Band, annehmen durfte. Herausgekommen ist tatsächlich etwas von morgen, ein modernes und gradliniges Diskopop-Album, bei dem die Fans zwar auf die Soundspielereien von Vince Clarke weitestgehend verzichten müssen. Dafür aber brechen wahre Soundwände im Kinoformat über den Hörer herein – „Erasure goes Lady Gaga“ könnte das Motto gewesen für die Arbeit an „Tomorrow’s World“, das sich – wenn man den nach Vergleichen sucht – vielleicht als eine Mischung aus den früheren Erasure-Alben „Cowboy“, „Erasure“ und „Nightbird“ beschreiben lässt.

Bei aller Euphorie über diesen „Langspieler“ (man beachte die Anführungszeichen) muss aber festgehalten werden, dass es mehr als enttäuschend ist, dass die Herren Clarke und Bell gerade mal neun Songs anbieten, die es zusammen auf eine Spielzeit von nicht mal 32 Minuten bringen. Das ist mager. Wer noch mehr neues Erasure-Material hören will, muss auf die limitierte Version des Albums zurückgreifen, auf der es mit „Give me life“ dann wenigstens noch einen zehnten neuen Song zu hören gibt.

„Tomorrow’s World“ im Einzelnen:

01 „Be with you“:
Zuckersüßer, etwas klebriger Diskopop mit Ohrwurm-Garantie. Das Besondere an diesem Stück ist – wie bei anderen Songs des neuen Albums auch – der Gesang, der live und nahezu unbearbeitet klingt – geradeso, als säße Andy Bell in der Lautsprecherbox vor einem. Ein guter Opener, der Lust auf mehr macht, zum Beispiel auf „Fill us with fire“.


02 „Fill us with fire“: Der zweifelsohne stärkste Song des Albums, der sich wunderbar als Auftaktsingle geeignet hätte. Eine fantastische Melodieführung, ein perfektes Arrangement setzen erneut den Gesang Andy Bells wunderbar in Szene. Auch gibt es bei diesem Up-Tempo-Stück die ansonsten sehr spärlich eingesetzten en analogen Synthie-Finessen von Vince Clarke. Geht sofort ins Ohr – und reift dort lange nach.


03 „What will I say when you’re gone“: Eine der beiden Balladen auf dem neuen Langspieler und
vielleicht der langweiligste Song auf „Tomorrow’s World“. Die Melodie kommt sehr vorhersehbar daher – allein der Gesang von Andy Bell reißt diese Nummer aus der Belanglosigkeit.


04 „You’ve got to save me right now“: Dieser Song lässt hinhören, so ungewöhnlich ist er.Feinster Elektro-Blues von Erasure! Bei den vergangenen „Total Pop!“-Konzerten hat das Stück unter dem Kurztitel „Save me“ bei den Fans gemischte und überwiegend ablehnende Kritik hervorgerufen. Musikalisch ist er ob seines komplizierten Arrangements und der gesanglichen Herausforderung ein echter Knaller und damit ein Album-Highlight. Man muss ihn mehrfach hören, um den Charme der sauber produzierten Studioversion herauszuhören.


05 „A whole lotta love run riot“: Eine schnelle, stampfende Diskonummer mit ziemlich vielen Vocoder-Effekten, die sich ziemlich überraschend in den Soundkaskaden verlieren – eine clevere Produktion und eines jener Stücke, die mit überwältigenden Soundwänden aufwarten. Geht sofort ins Ohr, auch dank seiner eher schlichten Melodie. Und die Fans kommen in den Genuss, Andy Bell auf Französisch singen zu hören.


06 „When I start to (Break it all down)“: Ein wundervoller Song mit einer charmanten Melodie, die sich schnell in den Gehörgang kuschelt. Als erste Single nach einer Erasure-Pause von vier Jahren scheint er aber als Vorbote eher ungeeignet. Von der Musik her klingt das Stück eher reduziert, es lebt vom famosen Gesang Andy Bells, der erneut stark nach Live-Aufnahme klingt. Im Hintergrund dürfen endlich Vinces Clarkes Synthesizer hemmungslos hervorsprudeln – überraschendes, fesselndes Ende. Warum Frankmusik davon gleich eine Coverversion aufgenommen hat, ist allerdings ein Rätsel – von diesem eher missratenen Machwerk sollte man ohnehin Finger und Ohren lassen.


07 „I lose myself“: Hammerstarke Elektro-Nummer, die sich als Single nur so aufdrängt. Erinnert an
Donna Summers „Hot Stuff“. Knallhartes, trockenes Arrangement, eine absolute Partynummer. Das Modern-Talking-Klavier in der Mitte aber hätten besser Soundtüfteleien aus Vince Clarkes Klangschmiede ersetzt … Man darf sich – wie übrigens bei der Mehrzahl der neuen Kompositionen – auf das Live-Erleben freuen.


08 „Then I go twisted“: Und noch einmal geht’s auf den Dancefloor, lasziver Diskopop mit explosivem Sound und wummernden Beats, wunderbar kühl produziert und von Andy Bell betörend vorgetragen. Wieder aber kommt der Vocoder zum Einsatz, um den Gesang zu manipulieren – Geschmackssache. Ein Ohrwurm aber allemal.


09 „Just when I thought it was ending“: Eine umwerfende Ballade – vielleicht die beste, die Erasure jemals produziert haben, so bezaubernd wie einst „No doubt“. Üppige Klangteppiche, die den Song nach Soundtrack klingen lassen – großes Kino im wahrsten Sinne des Wortes. Schmeichelt sich ins Ohr und bleibt ewig in den Gedanken. Zusammen mit „Fill us with fire“ ein Höhepunkt auf „Tomorrow’s World“.



Fazit: Ein insgesamt starkes Album, das die Fans aber spalten wird. Die Vincianer werden eher enttäuscht sein, während die Bellianer frohlocken dürften wegen der brillanten Gesangsleistung, die Lust auf die kommenden Live-Auftritte macht. Insgesamt wäre zu wünschen gewesen, dass es mehr neues Material gibt, das zeigt: Erasure sind noch lange nicht am Ende der Kreativität angelangt. Im Vergleich mit einem Album wie „Nightbird“ aber fällt „Tomorrow’s World“ dann doch deutlich ab. Oder mit einer Schulnote ausgedrückt: 2-.